Das soziale Netzwerk vergisst nichts
Ich bin ein vorsichtiger Mensch – gerade wenn es um soziale Netzwerke geht. Schon vor Jahren habe ich mir vorgenommen, möglichst nur Dinge in die Öffentlichkeit zu entlassen, mit denen ich auch auf Dauer leben kann. Das mutet sicher merkwürdig an für alle, die meine Status-Updates kennen, in denen ich über Pornos auf meiner Festplatte philosophiere, mich politisch äußere („ARRR!“) oder einfach mit einem „ICH WILL EUCH ALLE FRESSEN!“ die Runde verschrecke.
Was ich der Öffentlichkeit sage, ist mir nicht peinlich. Entweder ich vertrete meine Meinung, oder eben meine Rolle, die ich als Manniac Mind nun einmal spiele – und genau das ist sie ja auch: Eine Figur, die einige Teile meiner Persönlichkeit wiederspiegelt, ein paar weitere dazu erfindet, alle nach Lust und Laune bunt vermischt, und gerade deshalb nicht mit mir als privater Mensch verwechselt werden sollte. Als solcher will ich nämlich niemanden essen, und schon gar keine Nilpferde! Aber als Manniac Mind darf ich das, und vermutlich erwartet man das auch so.
Die meisten Menschen wollen im Web dagegen nur eines sein: Sie selbst.
Leider machen sie sich dabei nicht besonders viele Gedanken und gehen viel freizügiger mit ihren Fotos und Gedanken an die Welt heran, als sie es im realen Leben jemals täten – dabei ist das, was wir hier schaffen, mehr als nur unser Privatvergnügen: Wir arbeiten – unentgeltlich – an einer großen Wissensdatenbank, die uns und unser komplettes soziales Umfeld einschließt. WIR sammeln unsere Gefühle und Aktivitäten, unsere Freundes- und Familienverbindungen, unsere Fotos und biometrischen Daten und fügen sie – je nach Nutzung auch mithilfe der Sammlungen unserer Freunde – zu einem lückenlosen Lebenslauf, in dem unsere schönsten Erlebnisse, aber auch unsere peinlichsten Eskapaden noch Jahre später abrufbar bleiben. Diese Datenbank, die WIR freiwillig befüllen, gehört nicht UNS, sondern den sozialen Netzwerken, die uns die Tools dafür an die Hand geben. Was mit dieser Datenbank geschieht, entscheiden nicht wir, sondern das soziale Netzwerk.
Die Datenbanksoftware von Facebook, zum Beispiel, ist darauf optimiert, befüllt zu werden: Einfach immer oben drauf! Speicherplatz ist billiger als die Rechenpower, die notwendig ist, um alte Daten zu entfernen. Löschen ist nicht erwünscht! Auch bei Google nicht, dessen GMail so aufgebaut wurde, dass das Löschen einer E-Mail immer der allerletzte Ausweg sein sollte („Bei mehr als 2.500 Megabyte an verfügbarem Speicher brauchen Sie Nachrichten nie mehr wegzuwerfen.“). Daher macht es die Unternehmen einem auch nicht leicht: Ganze 3 Klicks sind bei Facebook nötig, um ein Statusupdate ins Nirwana zu schicken. Ob die Daten dann wirklich gelöscht wurden (und nicht einfach nur intern als „gelöscht“ markiert wurden), konnte mir bisher noch niemand garantieren.
Und die Daten, die ich nicht lösche?
Sofern ich den Zugriff darauf nicht rigoros eingeschränke, haben alle meine Kontakte darauf Zugriff, genauso wie das harmlose Browserspiel, das sich ohne den verlangten Zugriff gar nicht erst installieren lässt. Ach egal, ich will jetzt spielen und klicke OK! Und was macht es nun mit diesem Wissen über meine Musikvorlieben? Über meine politische Einstellung? Mit meinen Lieblingsgerichten? Oder mit den Personen, die mich inspirieren? Oder meinen Freunden?
Und was ist mit den Daten, die ich gar nicht bewusst eingebe, sondern die implizit über mich erhoben werden, einfach durch die Art, wie oder wo ich surfe?
Wer hat sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, wieso bestimmte Kontakte dauernd in der persönlichen Top 5-Liste angezeigt werden? Oft sind es sogar Freunde, mit denen man gar nicht so viel schreibt, oder manchmal auch welche, mit denen man eben noch in einem ANDEREN Netzwerk Kontakt hatte.
Woher weiss z.B. Facebook das? Oder wie kann Google+ ahnen, dass dieser Freundesvorschlag für mich der Richtige ist? Haben die auf Twitter gelauscht? Wurden meine Klicks auf meine Freundes-Profile getrackt? Wurde gemessen, wie lange ich mich dort aufgehalten habe, ob ich hoch und runtergescrollt habe, und erscheint deshalb mein Profil jetzt in dessen Top 5-Liste? Hatte mein Kommentar oder +1 auf ein Statusupdate eines Freundes Auswirkungen auf einen Freund meines Freundes, der zur selben Zeit kommentiert hat? Hängt das damit zusammen, wieso manche meiner Freunde meine Postings immer sehen, während andere sie scheinbar nie zu Gesicht bekommen?
Und was ist mit den Daten, die durch Like- und +1-Buttons oder Google-Analytics-Tracker auf nahezu jeder Seite im Netz gesammelt werden? Werden sie im Hintergrund mit meinem persönlichen Profil von Google oder Facebook verknüpft?
Die Möglichkeit besteht wohl, Datenschutzrichtlinien zum Trotz. Für Webunternehmen ist die Missachtung von Gesetzen oft nur Kalkül: Welchen Schaden riskiere ich, wenn ich es mit dem Datenschutz nicht ganz so genau nehme, und wieviel Vorsprung verliere ich, wenn ich es doch tue?
So harmlos es auch scheinen mag – und im Einzelfall ist es das sicherlich auch – die Sammlung von so vielen persönlichen Daten kann sich vielleicht auch einmal als Bumerang erweisen: Möchte ich wirklich, dass sich mein neues Love-Interest und mein Ex-Freund dank meines Profil kennenlernen? Soll mein Arbeitgeber wirklich erfahren, dass ich Sonntags Eis essen war, obwohl ich mich am Freitag zuvor noch krank gemeldet habe? Kann ich sicher sein, dass Facebook oder Google Plus nicht irgendwann mit Polizei- oder Terrorabwehr-Behörden zusammenarbeiten, um im Zuge einer „Rasterfahndung“-artigen… ähm, Recherche! verdächtige Personen aufspüren, zu denen ich vielleicht gehöre, weil ich mit der falschen Person gechattet habe oder Scherzangaben („hat bei Al-Qaida gearbeitet“, „würde gerne den verXten Flughafen in die Luft sprengen!“) in meinem Profil für bare Münze genommen wurden? Klingt unwahrscheinlich? Aber ähnliche Fälle gab es schon! Und während man auf MySpace oder der privaten Homepage je nach Wunsch durch ein Pseudonym vor allzu neugierigen Nasen geschützt war, erfolgt die Zuordnung auf Facebook oder Google+ durch den faktischen Zwang zu Real- oder zumindest Nicht-Anonym-Namen ganz einfach. Wer da als zukünftiger Arbeitgeber bei einem Bewerber nicht neugierig wird? Ach, die hat wohl nur Lady Gaga im Kopf? – Der ist Atheist? – Was sind das denn für peinliche Säuferbilder, auf denen das Mädchen von ihren Freunden markiert worden ist? – Kifft der oder warum steht da, dass er Cannabis mag? – Oha, die kleinen Kinder hat sie im Einstellungsgespräch gar nicht erwähnt…
Ich will gar nicht die Vorteile abstreiten, die so ein Lebenslog haben kann: Wer will nicht hin und wieder in seine Vergangenheit blicken – wie habe ich den Schulabschluss erlebt? Wie meinen ersten Arbeitstag? Was habe ich am 11. September 2001 gemacht, bevor ich vom Terroranschlag erfahren habe? Was waren die kleinen Alltagsdinge in meinem Auslandsjahr in Australien? Natürlich ist es spannend, das zu dokumentieren, damit man es zu einem späteren Zeitpunkt abrufen kann, und wer ist heute nicht seinen Eltern dankbar, die von Geburt an mit Fotos und Videos das eigene Großwerden dokumentiert haben?
Der Unterschied ist nur: Bisher war man vor allem selbst Archivar seiner Vergangenheit. Was nicht im Fotobuch oder Poesiealbum der 2. Klasse eingeklebt war, aber trotzdem wichtig genug erschien, das blieb eben im Gedächtnis, und das ist nicht so einfach für Zweite einsehbar. Das selbe gilt für Erlebnisse des Alltags, in der Schule und im Beruf, in der Freizeit oder im Urlaub.
Wer bisher an MEINE Erinnerungen wollte, musste zuerst einmal an MIR vorbei. Und was der andere nicht weiss, das macht ihn gar nicht erst heiss.
In Zukunft führt dieser Weg vielleicht über Facebook, denn nach dem Willen der Betreiber landen dort auch Daten, die ich nicht bewusst speichere: Wenn ich im Stadtpark spazieren gehe, wenn ich mir online was zu essen bestelle, wenn ich Musik höre, oder bei Google+: Wenn ich einen Hangout starte. Und wer glaubt, dass Behörden vor den Möglichkeiten eines so ergiebigen privaten Datenspeichers freiwillig Halt machen würden, nur weil er privat ist, wird sich getäuscht sehen. Die Daten sind ja schon da! Jetzt brauchen GEZ, Finanz-, Arbeits-, Jugend- oder Bürgeramt nur noch Zugriff darauf. Auch das wird heute vereinzelt schon gemacht.
Wir Menschen sammeln, um unser lausiges Gedächtnis zu unterstützen. Insofern kann man Datenspeicher als Erweiterung unseres Gedächtnisses sehen, und dieses ist um jeden Preis zu schützen. Wer hier anderer Ansicht ist, der würde vielleicht auch den Einsatz von Gedankenleseapparaten befürworten. Was in meinen Kopf passiert, bleibt bei mir – die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Und das ist es, was ganz dringend fehlt: Ein digitales Grundrecht, vergleichbar dem der Menschenrechte, das unser digitales Gedächtnis und den Zugriff darauf in einem außerordentlichen Maße schützt, und nicht für eine Lapalie wie ein Urheberrechtsdelikt oder einen Ladendiebstahl herangezogen werden kann.
Man könnte es auch zynisch das digitale-Schutz-vor-sich-selbst-Gesetz nennen.
Schon jetzt existieren Gesetzesvorschläge, die in der Analogwelt niemals zur Diskussion standen, deren digitale Durchführbarkeit nun aber unsere Art zu Leben verändert. Wieso verlangen Politiker dass zentral gespeichert werden soll, mit wem ich wann und wie lange telefoniert habe oder zu welchen Zeiten ich im Internet gesurft habe? Im normalen Leben steht doch auch nicht permanent jemand neben mir, der vermerkt, mit wem ich rede oder welche Zeitschriften und Bücher ich lesen. Und wenn ich einen Brief verschicke, gibt es doch auch keine Pflicht, meine Absenderadresse zu notieren. Und das sogar in Zeiten, in denen jeder weiss, dass es sowas wie Briefbomben gibt. Wieso verlangt denn keiner ein Briefverbot?
Oder wieso sollte es keine Möglichkeit geben, im Internet anonym zu bezahlen? Im Saturn verlangt der Kassierer doch auch nicht nach meinem Ausweis, wenn ich ihm 500 Euro in bar für einen neuen Computer hinlege, und es gibt auch keine Registrierpflicht, wenn ich privat die CD-Sammlung eines Freundes abkaufe.
Der Unterschied ist: Im Alltag ist es entweder nicht üblich oder einfach nicht praktikabel diese Daten zu erfassen. Im Internet werden die Regeln aber neu geschrieben, und das ist der digitalen Machbarkeit geschuldet. Die Daten sind eh schon da – also wollen wir sie auch nutzen.
Argumente finden sich für beide Seiten – zum Beispiel soll Geldschieberei damit verhindert werden. Die entscheidende Frage, die wir uns stellen müssen ist: Soll wirklich alles, was machbar ist, auch gemacht werden, nur für ein kleines Stückchen mehr Ordnung in einer Gesellschaft, der dafür ein großes Stückchen persönliche Freiheit verloren geht?
Wenn man der Wahrheit ins Auge sieht: Die selben Politiker, die das im Internet fordern, hätten das auch gerne für den realen Alltag. Leider geht es ihnen nicht um eine Verbesserung der gesellschaftlichen Situation, sondern um ein persönliches Steckenpferd. Ein bisschen Ordnung schaffen, zur persönlichen Profilierung bei den Wählern oder aus einer engstirnigen Sicht heraus, selbst wenn dadurch alles andere im Chaos versinkt. Und immer darauf achten, dass man selbst nichts verliert. Wie war das? Wer nichts zu verbergen hat, der hat auch nichts zu befürchten. Dabei müsste es wahrheitsgemäß heissen: Der, von dem wir glauben, dass er nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten, und DAS ist eine ganz andere Sache.
Und mit der fortschreitenden technischen Entwicklung wird auch der Tag kommen, an dem es keine Herausforderung mehr ist, den Alltag jedes Menschen bis ins Detail zu protokollieren und automatisch für den halbjährigen Zugriff für staatliche oder ausgewählte privaten Stellen zur Verfügung zu stellen – natürlich nur als Vorsichtsmassnahme und nur nach völlig unkorrumpierbarer richterlicher Anordnung, versteht sich.
Vielleicht kontrollieren wir auch automatisch die Geschwindigkeit jedes Autos in Deutschland, um Unfälle zu vermeiden, prüfen den empfohlenen Strom- und Wasserverbrauch in Privathäusern in Zeiten des Rohstoffmangels oder registrieren den Aufenthaltsort von Schülern während der Schulzeit, oder rechnen live gehörte Lieder oder gesehenen TV-Serien, Filme oder Pornos ab – monatlich mit der Telefonrechnung. Das führt zu interessanten neuen Möglichkeiten der Lizensierung: Nie mehr für etwas bezahlen, was man nicht nutzt. Dafür zahlt man insgesamt vielleicht etwas mehr: Die Freiheit nehm ich mir.
Ich bin kein Schwarzmaler und glaube an das weitestgehend Gute im Menschen. Ich glaube sogar, dass viele Politiker nichts Böses im Schilde führen und mit guter Absicht Projekte wie Stuttgart 21 oder die Vorratsdatenspeicherung gegen den Widerstand der eigenen Wähler durch die Ausschüsse jagen.
Ich glaube, es fehlt diesen Menschen einfach an Wissen, Verständniswillen und am Überblick über das große Ganze: Dass die Welt eine Gute ist, aber leider keine besonders Helle, und dass das Böse selten ganz offensichtlich in schwarz lackierten Stiefeln daherkommt, mit Warzengesicht, Apfel in der Hand und einem Odeur wie ein ganzer Lebkuchenpuff.
Was unsere Gesellschaft gefährdet ist Fahrlässigkeit und Ignoranz vor der realen Gefahr, dass Freiheit verloren geht, wenn Sicherheit zum wichtigsten Lebensziel erklärt wird. Das ist wie beim Vater, der drei Virenscanner übereinander installiert hat, bei denen sich alle wechselseitig als Schädlinge erkennen. Der eigentlich tadellos installierte Rechner versinkt so nur im Warnmeldechaos, falls er sich nicht gleich selbst den Gnadenschuss gibt.
Und diese wild um sich schlagende Panik ist ein guter Grund, weshalb wir vorsichtiger mit unseren privaten Informationen sein sollten: Um nicht unnötig in die Schusslinie von Paranoia zu geraten.
Keine Panik! Schreibt ruhig weiterhin, wie geil/teuer/psycho euer Tag/Urlaub/Joint war! Aber überlegt euch, ob ihr das hier in einem Jahr immer noch stehen haben wollt, denn ihr habt es sicher schon vergessen, aber euer Facebook/Google+/Twitter vergisst nichts.
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