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Meine Kanäle: Comedy & Cartoons / Reise-Abenteuer / Vlog-Schrott
17. Januar 2010 / 10:19

Jazzy Chipmunk

Als ich 19 war schickte mir ein Internet-Bekannter, der sich leidenschaftlich für klassische Musik interessierte und sich ebenso um mich bemühte, eine selbst zusammengestellte Kassette per Post.
Sie enthielt Stücke, von denen ich vorher nie gehört hatte, die mich aber so faszinierten, dass sein Geschenk bald zum festen Programmteil meiner Einschlafmusik avancierte. Es war die Zeit, in der Pop-Songs noch aus dem Radio aufgenommen wurden, CD-Stücke in der Reihenfolge abgespielt wurden, wie vom jeweiligen Künstler konzipiert, und „MP3“ als Geheimtipp einer kleinen Gruppe von Internet-Pionieren galt. Meine Stereoanlage aus drei Komponenten umfasste einen Radio-tauglichen Verstärker, einen CD-Player, dessen Schaltpult eine Direktwahl der ersten 20 Stücke ermöglichte, sowie ein modernes Kassettendeck mit zwei Einschüben zur Wiedergabe und zum Kopieren von einer Kassette auf die andere. Zur Beschleunigung des Kopiervorgangs war ein regelbarer Drehknopf vorhanden, der bei Bedarf die Bandlaufgeschwindigkeit beider Kassetten beschleunigen oder verlangsamen konnte. Es war ein Meistergerät der Consumer-Klasse und gleichzeitig eines des letzten Erfolgreichen seiner Art.

Ich gebe zu, dass ich nie ein großer Fan klassischer Musik war, doch diese Kassette des Freundes hatte etwas Magisches. Sie enthielt Stücke des Pianisten Vladimir Horowitz und Teile des legendären „Köln Concert“ von Jazz-Pianist Keith Jarrett.
Mit 10 kam ich dank meiner Eltern in den Genuss von fast 2 Jahren Klavierunterricht. Für das Instrument, das sie sich hart von ihrem wenigen verfügbaren Geld absparten, hatte ich Begabung, meine Finger waren flink und mein Gespür für Rythmus und Timing vielversprechend. Nur die Musik, die ich darauf üben sollte, sagte mir gar nichts. Klassenkameraden, die ebenfalls Klavier spielten, hatten alle diese Lieder gelernt, die ich immer spielen wollte, von denen mein Lehrer jedoch abriet, weil er fand, dass ich dafür noch nicht reif sei und mehr klassische Übungen brauchte.
Es ist schwer, das heute zu erklären, denn vermutlich hatte er Recht, und ich hätte nur etwas mehr Geduld gebraucht, bis ich lernen konnte, was ich wollte. Doch meine Unfähigkeit mich mit Dingen zu beschäftigen, für die ich mich nicht ausreichend interessierte und der spätere Wechsel zu einem sehr konservativen Lehrer, führten zu meiner Aufgabe des Instruments. Natürlich geschah dies zum Missfallen meiner Eltern und mein Wunsch, wie meine älteren Brüder die Gitarre zu erlernen, stand ihrem Misstrauen nachhaltig entgegen. Bis heute spiele ich leider kein Instrument.
Ein paar Dinge nahm ich jedoch mit: Zum einen, dass ich Noten lesen kann und verstehen, aber auch das Wissen um die harte Arbeit an jeder Nuance eines Tastenanschlags, mit der man Motive erweckt und formt, wie ein ausgebildeter Schauspieler die Silben und Worte eines Satzes.
Das war es, was mich an der Kassette faszinierte: Eine überwältigende Rasanz und gleichzeitige Perfektion, die sich aus der virtuosen Aneinanderreihung von Klängen ergaben, und die Emotionen in mir auslösten, wie ich sie bis dahin nicht gekannt hatte. Jemand, der so spielte, musste ein Genie sein, ein musikalischer Supermensch, dessen Finger in rasenden Tänzen über die Tasten glitten, als gelte es, nicht nur die Ohren zu entrücken, sondern sämtliche Sinne.

Es war ein paar Jahre später, in der Wohnung eines Freundes und wir verbrachten den Abend mit Essen, Unterhaltung und guter Musik. Er hatte eine seiner Lieblings-CDs in den Player eingelegt, welche ich auf eigenartige Weise bereits kannte. Das Köln Concert. Die vertrauten Klänge. Doch etwas war anders.
Ich konnte den ganzen Abend nicht den Finger darauf legen, doch einerseits wusste ich genau, dass es die gleichen Improvisationen waren, die ich schon von meiner Kassette kannte. Andererseits war mir, als hörte ich die Stücke zum ersten Mal. War es die neue Umgebung? Der Klang einer nicht vertrauten Anlage? Das Wunder des digitalen Masterings?
Als ich nach Hause kam und die Kassette in mein seit Jahren nicht mehr verwendetes Deck schob: Wieder der alte vertraute Klang! Ich hatte mir den Unterschied nicht eingebildet: Mein Freund hatte eine andere Version – doch das konnte nicht sein. Vielleicht war sein CD-Player defekt? Seine Lautsprecher-Boxen falsch justiert? Oder hatte mein Internet-Bekannter beim Überspielen einen Fehler gemacht?
Nach 23 Minuten, noch während ich über das Rätsel sinnierte, wechselte die Kassette die Richtung und den Abspielkopf. Nach so vielen Jahren fiel es mir wie Schuppen aus den Ohren.
Horizontal glitt mein Finger über die Staubschicht auf der Gehäusefront, wechselte zwischen den beiden Einschüben die Richtung und kam schliesslich auf der vertikalen Mitte neben einem kleinen regelbaren Drehknopf zum Halt. Ich drückte ihn ganz hinein und stellte das Kassettendeck auf normale Geschwindigkeit.

 
 


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