OZ (Ost): January 7, 2008 / 00:05
AUSTRALIEN-REISE
Zwischen Sieben und Acht
Es ist abends, halb sechs in der Gästeküche und ausgesprochen wenig Trubel – hier im „Maze“ ist das verdächtig.
Außer mir haben sich nur zwei einsame Reisende zwischen den zahlreichen Kochplatten positioniert. Im großen Alutopf zu meiner Linken schwimmt ein zerlegtes Huhn mit Spiralnudeln in einer süßen Tomatensoße um die Wette. Rechts versucht sich ein französischer Gourmet an einem Schweinefilet und bei mir in der Mitte aalen sich chinesische Nudeln entspannt im lauwarmem Spa. Mit etwas Glück kochen sie in 20 Minuten – im Land der Hitze sind Herde nicht die Schnellsten.
Einer der beiden anderen grüßt kauend in meine Richtung und will wissen, wie meine Abendplanung aussieht. Ich murmle etwas von „Fireworks“ und er nickt mir zu: „Get there early!“. Dann reicht er mir ein Päckchen Kaugummi: „Want some?“
Es gibt diese goldene Regel, die Kindern bereits im Vorschulalter lernen und die ihnen helfen soll, heil durch die Pubertät zu kommen und sogar darüber hinaus: „Nimm keine Süßigkeiten und Ratschläge von fremden Männern!“.
Okay, das mit den Ratschlägen habe ich jetzt erfunden, aber es hört sich an wie eine Regel, die plausibel klingt. Und manchmal wäre es ausgesprochen dumm, auf sie zu hören. (Schalten Sie beim nächsten Mal übrigens wieder ein, wenn Sie lernen möchten, wie man nihilistisch blogt!)
Es ist immer noch der 31. Dezember 2007. Noch wenige Stunden bis zur großen Party, und obwohl ich mir geschworen habe, mich gut darauf vorzubereiten und die besten Orte für Fotografien auszukundschaften, wird mir langsam klar, dass mich selbst die beste Vorbereitung nicht vor dem schützen kann, womit ich jetzt immer mehr rechne: Massen von partywütigen Menschen rund um das Zentrum zwischen Harbour Bridge und Sydneys Oper.
Gegen halb Neun mache ich mich auf den Weg – zu Fuß, denn die meisten Bahnlinien haben ihren Service vor wenigen Stunden eingestellt. An einem normalen Abend kann man den Marsch in 30 Minuten schaffen – doch natürlich ist dies kein normaler Abend. Es ist schon dunkel und die Straße füllt sich mit Passanten, die heute noch mehr herausgeputzt sind als sonst. Ein paar Mädchen vor mir laufen in silberner Abendgarderobe und erhalten respektvolle Pfiffe von der einen Straßenseite und einige weniger respektvolle Offerten von anderen. An jeder zweiten Kreuzung steht ein Asiate und bietet blinkende Waren in seinem Bauchladen feil. Je weiter ich mich dem Hafen nähere, um so mehr Händler werden es – doch die Straße hat hier noch keinen Mangel an Kapazitäten.
Plötzlich passiert etwas, womit ich nicht rechne. Als ich, den Blick zur Seite gerichtet, auf Höhe der Town Hall die Straßenseite wechsle, vernehme ich aus der Ferne mehre Schüsse. Passanten rufen aufgeregt und zeigen in eine Richtung. Zwischen den riesigen Wolkenkratzern, die sich angeleuchtet deutlich gegen den schwarzen Nachthimmel abheben, rieseln hunderte kleiner Sterne. Auf ihrem Weg nach unten zerplatzen sie in viele weitere Sternchen, ehe sie im Schwarz der Nacht wieder verschwinden. Weitere Explosionen in Grün und Rot folgen, und die Menge um mich herum wechselt fasziniert den Weg in die neue Richtung.
Die Uhr zeigt Neun – Mitternacht ist noch eine gute Weile entfernt. Sollte das Neujahrsfeuerwerk in Sydney tatsächlich drei Stunden früher beginnen, als das neue Jahr? Nein, verrät ein Passant, dieses sei nur das Vorspiel – damit diejenigen, die den eigentlichen Jahreswechsel Zuhause und nicht am Hafen verbringen wollen, trotzdem Gelegenheiten haben, eines der aufregenden öffentlichen Spektakel der Stadt zu erleben.
Meine Position zwischen den Häuserschluchten ist zum Betrachten ausgesprochen doof, denn vom Hafen bin ich beim derzeitigen Verkehr noch gut 20 Minuten entfernt, und in der Richtung in der die Raketen steigen (Es gibt offenbar mehrere regionale Feuerwerkszentren, und dieses ist etwas westlich von der Harbour Bridge), blockieren große Gebäude die Sicht. Nach 5 Minuten schnellen Ganges erreiche ich endlich den Durchgang zum Wasser und werde von mehreren Sicherheitsbeamten zurückgehalten. Taschenkontrolle. Da ich eine Plastikflasche mit mir führe, darf ich nicht passieren. Wasser ist zwar Wasser, aber Rule ist Rule. Was der Sinn dieser Rule sein soll, kann ich nur ahnen. Mein Trotz, die Flasche nicht wegwerfen zu wollen (hat mich immerhin 3 Dollar gekostet), führt dazu, dass ich nicht zum Ufer darf. Wenige Minuten später ist das Feuer auch schon vorbei. Verdammt.
Aber es gibt ja noch das zweite, um Mitternacht. Ich schau auf mein Handy: 21:15 Uhr. „Get there early!“. Kinderspiel.
Oder?
In der Gegend hinter den Docks, die man „The Rocks“ nennt, wirkt die Menge überschaubar. Nur vereinzelt haben sich Leute auf den Rasenflächen oder Treppenstufen niedergelassen. Hier steht der südliche Pfeiler der gigantischen Harbour Bridge und von hier kann man deutlich die vielen Stahl-Erweiterungen am Brückenrahmen erkennen, auf denen später die Feuerwerkskörper in den Nachthimmel starten. An den Senkrechtverstrebungen des Bogens leuchtet eine große Sanduhr und zeigt die verbleibende Zeit. Tagsüber hatte ich sie gar nicht als solche erkannt. Ich könnte hier bleiben, aber die Brücke sieht man hier nur von schräg unten und die Oper bleibt hinter Hafengebäuden verborgen. Ich schiebe mich also Richtung Osten, der Oper entgegen, nur um festzustellen, dass der Durchgang dorthin einem Sicherheitskonzept zum Opfer gefallen ist. Ein meterhoher Zaun umgibt den Fährhafen, und ist nur an wenigen Stellen von bewachten Durchlässen unterbrochen. Ich mache es einer vom Sicherheitskonzepten unbeeindruckten Gruppe nach und trample mit ihnen gemeinsam durch ein Blumenbeet. Dabei müssen leider alle frisch gepflanzten Palmen daran glauben. (Disclaimer: Es waren die Schuhe der anderen. Ich bin sehr vorsichtig um die Palmenleichenteile herummaneuvriert.)
Also weiter, einmal um den Pudding herum. Ich brauche eine ganze Weile, bis ich endlich auf der anderen Seite des riesigen Hafengebäudes stehe, um festzustellen, dass die Masse an Menschen im Verhältnis zur Entfernung, die ich zurücklege, logarithmisch zunimmt. Schon nach kurzer Strecke komme ich keinen Zentimeter mehr voran und kehre schließlich entnervt um. Über eine Seitenstrasse gelingt es mir, den Hafen großräumig zu umlaufen, und nach fast 20 Minuten Slalom um die vielen Menschen, erreiche ich schließlich den botanischen Garten. Doch auch hier hat das Sicherheitskonzept Schranken gesetzt: Lautsprecherdurchsagen verkünden, dass die Gegend nur mit Eintrittsticket passierbar sei, und diese sind bereits ausverkauft. Die einzigen freien Orte im Garten sind die, von denen man weder auf die Oper noch auf die Brücke sieht. Umkehr.
Wieder 20 Minuten später stehe ich mitten in The Rocks. Die Menschenanzahl hat sich inzwischen verdoppelt – es ist unmöglich geworden, an irgendeiner Stelle zu stehen, ohne mit mindestens drei anderen Menschen Körperkontakt herzustellen. Die Rasenflächen hat die Parkverwaltung klugerweise flächig mit Plastikmatten ausgelegt. Ich denke noch einmal etwas traurig an den Palmenfriedhof, dem dieses Glück nicht zuteil wurde. Sydneysider nehmen sich jeden Weg, den sie bekommen. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Im Gedränge machen sich die Vorteile der strengen Sicherheitsregeln bemerkbar: Dank des strikten Verbots von Flaschen und Alkohol ist die Fröhlichkeit zwar laut, aber der Asi-Faktor bleibt überschaubar. Das finden auch die, die gerne Alkohol trinken, und die geringe Zahl herumliegender Flaschen reduziert die Stolpergefahr (wobei es trotzdem noch einige Flaschen hierher, bzw. auf den Boden geschafft haben, was aber wohl eher an den hoffnungslos überfüllten Abfalleimern liegt, als am bösen Willen).
Je weiter die Zeit voranschreitet, umso schwerer wird das Durchkommen. Viele Australier sitzen hier schon seit dem Nachmittag auf ausgebreiteten Picknickdecken. Ihre Speisen, Kühltaschen („Eskies“) und breiigen Körper haben sie darauf verteilt, um Plätze zu sichern. Beim Durchqueren ernte ich viele grimmige Blicke, aber auch einige verständnisvolle. Plötzlich endecke ich einen freien Fleck: Er ist nicht besonders groß, befindet sich aber direkt am Pier – ohne störende Menschen im Blickfeld. Ich drängle mich durch und prüfe die Lage, um nicht versehentlich jemandem den Platz zu stehlen. Beim setzen achte ich darauf, meinen Hintern nicht auf eine der großzügig ausgebreiteten Decken zu positionieren. Plötzlich tippt mich ein Mann an, der auf einer viel zu großen Decke sitzt, deutet auf meinen Schuh, welcher die Decke um einen halben Inch überragt und raunzt mit schlecht gelauntem spanischem Akzent: „My wife will be coming back soon!“. „I don’t mind your wife.“ lass ich ihn lakonisch wissen und drehe mich von ihm weg. Offenbar gibt er sich damit zufrieden.
Ich habe wirklich Glück, denn im Vergleich zu anderen Plätzen am Pier bleibt diese Ecke erstaunlich leer. Auch nachdem die Frau des mies gelaunten Mannes zurückkehrt, bleibt noch sehr viel Platz. Allein die Luft wird dichter, denn die Frau bringt weitere schlechte Laune mit sich. Wie ihr Mann spricht sie mit starkem Akzent, was jetzt nicht weiter relevant wäre, hätte ich den Inhalt des Gesprächs nicht in Teilen belauscht. Offenbar ärgerte sie sich über ein dänisches Mädchen, mit dem sie vor wenigen Minuten aneinander geraten war. Es ging um „lokale Sitten“, Herumgeschubse, und ganz allgemein um „fucking foreigners“. Ihr Mann, um kräftige Ausdrücke nicht verlegen, ergänzte das Gespräch mit vielen kleinen Worten, bei denen jedem puritanischem Amerikaner das Wasser in den Knochen gefröre. Unterstützt durch seinen Akzent legte er dabei besonderen Wert auf die Betonung harter Konsonanten wie „c“, „t“ oder „ck“.
Plötzlich geht ein Raunen durch die Menge. Sicherheitsleute passieren uns außerhalb des abgesperrten Bereichs und fordern zum Aufstehen auf: Bei einer Panik seien wir sonst die ersten, die daran glauben müssten. Das lassen wir uns nicht zwei Mal sagen. Der Platzgewinn, der sich durch das Aufstehen ergibt, ist schnell wieder verloren, da die Menschen aus den dichter gepackten Gegenden in unsere Richtung nachdrängen. Es vergehen noch einige quälende Minuten, bis schließlich der Wind den Countdown über die Köpfe der schier endlosen Masse an Menschen zu uns hinüberträgt: „… Three, Two, One, Happy New Yeaaaaaar!!!“
Von der südlichen Seite des Bogens der Harbour Bridge bis zur anderen Seite explodieren im Sekundentakt die ersten silbernen Fontänen und tauchen das gesamte Hafenviertel in gleißendes Licht. Die Ooohs und Aaaahs überschlagen sich förmlich, als nach wenigen Sekunden auch auf der anderen Seite, über der Oper, die ersten Geschosse in den Himmel ziehen. Abwechselnd oder im Gleichtakt regnet es flammende Blumen, kreiselnde Kometen und glitzernde Sternschnuppen in den Farben Rot, Weiß, Grün, Blau und Lila. Einige Rakten explodieren gleich mehrfarbig oder faszinieren durch ihre besondere Form als Mercedes-Sterne, Hüte und Baumdiagramme. Kaum haben wir uns an die bunten Blitze aus der einen Richtung gewöhnt, überrascht uns aus der anderen eine senkrechte Fanfare bunter Lichter von den Dächern der umliegenden Wolkenkratzer. Das Publikum dreht sich von der einen zur anderen Richtung, angetrieben von immer neuen Explosionen und Eindrücken. Viele zünden jetzt ihre mitgebrachten Wunderkerzen, trinken den heimlich eingeschmuggelten Sekt aus mitgebrachten Plastiksektgläsern, fotografieren sich gegenseitig grelle Blitze ins Gesicht oder jubeln einfach grundlos glücklich über das frisch angekommene neue Jahr.
Ich stehe in meiner Ecke am Pier und filme das Ganze und fühle mich zwischen diesen vielen Menschen doch eigentlich sehr allein. Für einen kurzen Augenblick überlege ich, was meine Freunde in Deutschland gerade tun. Dort sind es noch zehn Stunden bis zum neuen Jahr. Wahrscheinlich besorgen viele jetzt die letzten Dinge für das große Fest, einige wissen wahrscheinlich immer noch nicht genau, wo sie den Abend verbringen, manche andere arbeiten, um sich mit dem Jahresausklang finanziell zu sanieren und wieder andere wünschen sich vermutlich, dass es doch schon endlich da wäre, das blöde neue Jahr, um mit dem verkackten Alten abzuschließen. Heimlich proste ich ihnen zu und nippe an meiner Wasserflasche. Auf ein Neues!
Es hatte Stunden gedauert, bis sich der Hafen mit Menschen gefüllt hatte, nun dauert es nur wenige Minuten, bis er sich wieder leert. Nach dem Ende des Feuerwerks macht sich fast eine Millionen Menschen wieder auf den Weg nach Hause, und gäbe es einen perfekten Moment für Panik, dann wäre es wohl dieser. Ein grau-schwarzer Mob schiebt sich, dirigiert von wirren Lautsprecheransagen zügig an mir vorbei in Richtung Innenstadt. Unter stampfenden Tritten bebt die Erde und unzählige Plastikflaschen knacken im Takt. Ich bleibe noch eine Weile in meiner geschützten Ecke, bis der größte Andrang vorrüber ist, und mache mich dann auf den Weg.
Die Menge hat sich inzwischen gleichmässig auf alle Straßenzüge verteilt. Vor einigen Lokalen stehen Trauben von Menschen. Viele konsumieren mehr oder weniger nicht-alkoholische Getränke und tanzen ausgelassen zu rythmischer Musik.
Auch jetzt bin ich wieder froh über den rigiden Anti-Alkohol-Kurs, dem ich anfangs mit viel Misstrauen begegnet bin. Ich selbst trinke generell nur selten – seit Beginn meiner Reise nicht einmal einen einzigen Tropfen. Trotzdem bin ich kritisch eingestellt gegenüber Verboten, weil ich glaube, dass Menschen das Recht zugestanden werden muss, selbst zu entscheiden, mit welchen Drogen sie ihr Gehirn zerstören. Andererseits finde ich die Feststimmung auf der Strasse keinesfalls „nüchtern“ und eigentlich auch relativ unbedrohlich.
Alkohol ist eben leider doch auch eine Droge, die sich über Bande auf Unbeteiligte auswirkt, und die werden durch das Alkohol-Verbot sehr wirksam geschützt.
Für die restliche Nacht entscheide ich mich zu einen Streifzug durch das Nachtleben von Darlinghurst, ehe ich am frühen Morgen wieder im „Maze“ aufschlage. Mein Zimmernachbar, den ich erst ein einziges Mal seit meiner Ankunft gesehen habe, ist noch nicht zurück, doch das ist mir nur recht. Erschöpft von der langen Wanderung klettere ich in die obere Etage meines Stockbetts und wickle mich in das dünne Laken. Ein letzter Blick auf die Uhr verrät, dass Deutschland noch fünf Stunden im Jahr 2007 verbleiben und mir noch etwa 5 Minuten, bis ich in einen tiefen festen Schlaf falle, mit Träumen von Baumdiagrammen, Hüten und Mercedes-Sternen.