Zwischen Nadelbäumen
Mit 15 hatten mich meine Eltern zur Gartenarbeit verdonnert – eine Aufgabe, die ich mindestens so gerne erledigte, wie meine Mathe-Hausaufgaben, mit denen ich mich hätte rausreden können, wären nicht seit einer Woche Herbstferien gewesen. Also beschloss ich bei der Wahrheit zu bleiben und verkündete, dass das, was mir zur Ausführung fehlte, die schlichte Lust sei. Gartenarbeit war mühsam, und soweit ich das beurteilen konnte, auch reichlich unnütz: Weder kochte meine Mutter gerne, noch schmeckte mir dann das, was sie daraus machte. Zudem erschien mir ihr merkwürdiges Hobby schon aus gesundheitlichen Gründen bedenklich: Die Erdbeeren aus unserem Garten waren grundsätzlich von Nacktschnecken vorgekostet, der Kopfsalat eine einzige Wurmbeilage, die Tomaten Matsch und der Rosenkohl… ich will gar nicht über den Rosenkohl reden.
Ich hatte mich also zum Trotz in meinem Zimmer eingeschlossen, als mein Vater plötzlich begann mit ziemlicher Wucht an meiner Tür zu rütteln und mit Konsequenzen drohte, würde ich sie nicht sofort öffnen und mich im Garten zum Dienst melden. Obwohl ich seine gelegentlichen Wutausbrüche gewohnt war und langsam lernte, mit ihnen umzugehen, überkam mich eine ordentliche Angst: Ich saß alleine in meinem Zimmer, und diese wild gewordene Macht stand wie Conan der Barbar vor der Tür, und versetzte mich trommelnd und hämmernd in Angst und Schrecken. Sollte ich die Türe öffnen, oder bräche er sie sonst ein? Da die Heftigkeit der Aufforderung immer weiter zunahm und ich damit rechnete, dass früher oder später einer von uns beiden nachgeben musste – die Türe oder ich – entschloss ich mich für den einzigen noch verbleibenden Ausweg: Panik. Zitternd öffnete ich das Fenster und sprang.
Mein Zimmer befand sich im ersten Obergeschoß, aber tatsächlich war das Fenster nur einen knappen Meter über dem Erdboden, denn unser Haus stand an einem steilen Hang. Ich rannte los, an den Terrassen unseres Gemüsegartens vorbei, immer weiter den Berg hinauf, entlang der Pferdekoppel, über den ausgetreten Wanderweg die Böschung hoch und dann durch das große Maisfeld immer weiter auf den Wald zu, der sich dunkel hinter den Straßen unseres kleinen Vororts abzeichnete. Ich zögerte, bevor ich die Düsternis betrat – es war Jahre her, dass ich mich in den Wald traute, und damals war ich nicht allein. Früher hatten wir Kinder hier oft gespielt, kleine Anlagen gebaut, Holz gesammelt oder aus einer Quelle Lehm und Fossilien geschöpft, die wir stolz unseren Lehrern in der Grundschule präsentierten – nur heute war es kein Spiel und die Grundschule ein lange vergessener Traum. Ich ging hinein.
Die Tannen waren nur an den oberen Ästen begrünt, denn weiter unten, wo kein Tageslicht hinkam, wäre das Werben um Licht vergeblich geblieben. Spröde, graue Zweige der unteren Stämme griffen wie Peitschen um meinem Körper und hinterliessen Spuren an meinen Armen und dem Gesicht, doch mich kümmerte das nicht. Nach hundert Metern lichtete sich die Walddecke und ich gelangte an eine grob geteerte Straße: Von hier an herrschten Laubbäume vor – viele Buchen und Eichen – große struppige Riesen, die so viel älter waren als ich kleiner Mensch.
Neben der Ecke, an der sich die Straße in zwei Feldwege aufteilte, stand eine Rampe, und dahinter, auf der quadratischen Fläche von drei mal drei Metern, lagen flache Bretter dicht an dicht wie eine Theaterbühne mitten auf dem Boden des Walds. In allen vier Ecken markierten zwei Meter hohe Pfähle die Begrenzungen und dünne Kordeln hingen schlapp an jeder Seite. Der Wind und das Wetter hatten sich zurückerobert, was vor wenigen Monaten noch der mühsam gebaute Boxring meines Freunds Carsten war. In der Mitte des Bodens stand in großen Lettern ein Name: Rocky. Carsten war mein Rocky. Solange ich nicht seinen Sandsack spielen musste, war er mein bester Freund, und seine Schwester Anna war damals für mich sogar noch mehr. Den Kontakt zu den beiden hatte ich da aber schon lange verloren.
Ich folgte dem Feldweg auf der linken Seite, bis ich wieder den Rand des Waldes erreichte, an dessen grasbewachsenen Hängen wir im Winter Schlitten gefahren sind. Hier hatten wir aus Schnee auch kleine Iglus gebaut, die aufgrund ihrer Größe kein Erwachsener betreten konnte. Inzwischen war ich jedoch selbst dafür zu groß geworden.
Im dichten Gestrüpp neben dem Weg befand sich die Stelle zu einem geheimen Pfad und nachdem ich die knorrigen Äste zur Seite gehoben hatte, schob ich mich hindurch. Durch die wogenden Arme der Tannen blitzten die späten Strahlen der Sonne und tauchten die darunterliegende Landschaft in ein eigenartiges rotes Licht. Den Boden überzogen Nadeln, vielfarbige Blätter und umgefallene Stämme und gaben diesem Teil des kultivierten Waldes ein Stück Wildnis und Freiheit zurück.
Zwischen den Stämmen von drei Nadelbäumen hing eine schmutzige Plastikplane, und darunter erkannte ich ein weiteres Fossil meiner Kindheit: Die morschen Bretter eines der vielen Versuche, ein Baumhaus zu errichten, verbanden immer noch wie eine Brücke die dicken Stämme. Sie bildeten eine Plattform, von der aus man wie auf einem Hochstand weit in den Wald sehen konnte, oder – wenn man in die andere Richtung blickte – den Hang hinab zur Siedlung, und auf die gegenüberliegende Seite, wo unserer Haus stand. Ich überlegte, ob ich hinaufklettern sollte, doch eine Leiter fehlte, und für Experimente fehlte mir aufgrund des Zustands der Bretter dann doch der Mut. Während die Sonne hinter dem Horizont verschwand und die Dämmerung sich langsam durch den Wald tastete, bemerkte ich in einiger Entfernung eine Gruppe von Kindern, keines älter als 12.
Gröhlend und mit langen Stöcken das hohe Gras niederpeitschend rannten sie den Abhang hinab zu den Häusern, wo ihre Eltern schon mit dem Abendessen auf sie warteten. Ich sah sie lachend zwischen den kleinen Häusern und Büschen verschwinden und mein Blick veharrte noch einen Moment an der Stelle, an der wahrscheinlich ein sorgenfreier Herbstabend begann. Es war inzwischen dunkel geworden, und ein kalter Zug erinnerte mich an die dünne Bekleidung, mit der ich einige Stunden zuvor meine Flucht angetreten war.
Ich entschied mich meinen Eltern zu stellen. Sie waren immer noch meine Familie und mein Zuhause und der Gedanken, abzuhauen im Grunde doch ziemlich doof. Wo sollte ich denn hin? Als verlorener Sohn im Wald leben, zwischen Graugnomen und Rumpelwichten, wie in einer Fabel von Astrid Lindgren?
Mein Vater hat dann einige Tage kaum mit mir gesprochen. Auch meine Mutter zeigte wenig Verständnis für meinen Ausreisser. Zur Aussprache kam es nie, aber im darauffolgenden Frühling ging die lästige Garten-Pflicht erstmals an mir vorrüber.
Zwei Jahre später haben sie den Garten ganz aufgegeben.
Von meinem Zimmer aus beobachtete ich, wie die umliegenden Wiesen von den verlassenen Terrassen Besitz ergriffen, und nur wenig später blühten dort Margariten und Löwenzahn und im Sommer ein Meer aus weißen Pusteblumen.
Im Sommer ein paar Jahre später erhielten meine Eltern eine Anfrage der Forstverwaltung, ob ihnen vielleicht bekannt sei, wer die große Plattform und das Baumhaus in den Wald gebaut habe. Helfen konnten wir jedoch alle nicht.