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18. Oktober 2007 / 17:46

Die Welt retten

Ich kann wieder gar nicht so viel schreiben, wie ich kotzen möchte.

Marc Doehler, der Betreiber des Call-in-TV-Forums, das unter anderem die Geschäftspraktiken der Firma „Callactive“ unter die Lupe nimmt, musste sich vor Gericht verantworten, weil Diskussionsteilnehmer des Forums gelegentlich von „verwirrten Anrufern“ schreiben, was „Callactive“ als Behauptung versteht, es handle sich um „gefälschte Anrufer“.
Da der Betreiber des Forums im Frühjahr 2007 eine Unterlassungserklärung unterschrieben hat, die ihm untersagt in Radiosendungen von „gefälschten Anrufern“ zu sprechen, glaubte Callactive, gegen die Bemerkungen im Forum – die übrigens in der Regel bereits nach wenigen Minuten vom Forumsbetreiber gelöscht werden und deshalb auch von fast niemanden gesehen werden – vorgehen zu können.
Konnte es nicht, denn das Landgericht Berlin hat entschieden, dass die Unterlassungserklärung nur für Äußerungen in Radiosendungen gilt, nicht aber für Äußerungen in Foren.

Klingt doch gut, oder? Warum reg ich mich dann auf? Einfach: Ausschlaggebend für den vorläufigen Sieg waren natürlich die falschen Gründe. Sieht man sich den Verlauf der Verhandlung (Link gelöscht) und die Kommentare des Richters genauer an, ergibt sich kein Grund zum Jubeln:

Der Richter, sinngemäß: „Herr Döhler, Sie sehen doch, mit dem Forum haben Sie nur Ärger, und es ist ja auch nicht so bedeutend, daß Sie damit die Welt retten. Wie wäre es denn, wenn Sie das Forum schließen und die Sache so aus der Welt schaffen? Es hat Sie doch bisher schon ziemlich viel Geld gekostet. Suchen Sie sich doch ein anderes Hobby.” Dabei grinste er etwas verschmitzt, so daß der Eindruck aufkommen mußte, daß er den Vorschlag selbst nicht so ganz ernst nahm.

Verschmitzt grinsen hin oder her – wie kann ein Richter so eine Frage nur ernsthaft stellen?
Damit gibt er das Engagement der Menschen, die Zweifel an der Rechtmäßigkeit bestimmter Call-In Sendungen haben, der Bedeutungslosigkeit, wenn nicht gar der Lächerlichkeit preis. Er qualifiziert ihre Arbeit und Bemühung für faire Regeln bei Gewinnspielen im Fernsehen ab als ein „Hobby“, das ja so wichtig nicht sein kann – wie wichtig denn? Wie die geschäftlichen Interesse der veranstaltenden Firma?
Er sagte, es sei ja nicht so bedeutend, dass der Betreiber damit die Welt retten müsse. Die Welt retten.
Wenn der Geist der Güte und Harmonie durch deutsche Gerichtssäle spukt, läuft mir nur ein gruseliger Schauer den Rücken hinab.

Das Gericht war letztlich der Auffassung, daß Wortsperren oder eine Kontrolle durch Mods nach Veröffentlichung nicht ausreichten, sondern ausschließlich eine Vorabkontrolle. Für den Zeitraum, in dem diese aufgrund technischer Probleme nicht einsetzbar gewesen sei, hätte Marc das Forum eben dichtmachen müssen.

Vorabkontrolle. So stellt sich das Gesetz, welches angeblich Vorzensur ausschließt, die Realität vor. Wenn das falsche Wort 5 Minuten online steht, dann sind das 5 Minuten zu viel. Steht es nur Sekunden online, dann ist auch jede einzelne Sekunde zu viel. Und verantwortlich für etwas Beleidigendes, für etwas Unwahres oder etwas Geschäftsschädigendes ist nicht etwa der Verursacher, sondern der Betreiber des Forums, weil er die Möglichkeit der Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat. Das gilt natürlich auch dann, wenn die Identität des Verursachers bekannt ist. Das ist, als würde der Veranstalter einer Podiumsdiskussion für etwas belangt, das einer seiner Gäste ins Mikrophon sagt.
Wäre ich eine der Personen, die sich diese gesetzliche Farce ausgedacht haben oder einer derjenigen, die sie sich jetzt zunutze machen, ich würde mich vor Scham über mich selbst in einem Erdloch verkriechen oder heimlich still und leise aus dem Genpool entfernen.

Dass die Diskussions- und Beitragkultur unter den geschäftlichen Interessen von zweifelhaften Unternehmen leiden muss, ist natürlich ein Vermächtnis einer Politik, die sich mit dem, was sie entwirft, nur oberflächlich auseinandersetzt, und populistische Lösungen gegenüber klugen bevorzugt. Welcher Politiker hat denn das Internet wirklich verstanden? Wer von ihnen bewegt sich regelmässig im Foren und weiß, was Netiquette ist? Wer versteht das Wesen der Diskussionskultur in Foren oder Blogkommentaren, wenn er nicht einmal weiss, was ein Emoticon ist und wie man es benutzt? Wer, wenn er sich damit nicht einmal auseinandergesetzt hat, begreift dieses Mittelding aus Publikation und freier Rede als die Chance, die es ist, statt sie durch Vorabkontrolle, Beschränkungen und unfaire Gesetze zu kriminalisieren?
Es wird wirklich Zeit, dass hier etwas passiert. Wenn eine Rechtsauffassung so verbogen wurde, wie die der Forenhaftung ist es für Abwarten und Teetrinken bereits zu spät: Das Kind ist schon lange ins Wasser gefallen, und da kocht es schon etwas länger als die durchschnittliche Portion Sauerbraten.

Eine klare Gesetzgebung oder eine klare Rechtsprechung könnte helfen, den destruktiven Unsinn der Vorabkontrolle und Störerhaftung zu beenden – aber welcher Politiker sieht sich schon in der Verantwortung, solange Klagen nur von Menschen kommen, die meinen mit ihrem „Hobby“ die Welt retten zu müssen?

 
 


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