CROSS KICK Tirana: In ferner Nähe
Weit entfernt von postsozialistischer Melancholie ziehen die Jugendlichen durch die Nacht. Die meisten Partys sind schon mitten im Gange. Yvonne Catterfeld und Chumbawamba dröhnen aus einer kleinen Bar und eine bunte Truppe junger Mädchen läuft kichernd an uns vorbei – nicht ohne dem gelockten Menschen neben mir „Tung Bubi!“ nachzurufen. Wir sind auf dem Weg zu einer angesagten Bar, entlang der tiefergelegten Einkaufspassagen, vorbei am spinnenartigen, stilgemischten Hundertwasser-Cafe „Taiwan“, vorbei an den Zigeunerkindern, die von ihren Eltern auf die Straße geschickt werden, damit sie ihnen ein höheres Monatseinkommen bescheren als es ein durchschnittlicher Universitätsprofessor erreicht. Das sagt der Gast-Vater eines Studenten.
Adela zupft ihr gefälschtes Dolce & Gabbana Top zurecht, Eri zieht es noch zu einem Döner in die YAHOO! Fast Food Bar und Viola tippt wie wild Treffpunktdaten an alle Studenten der Akademia Arteve in ihr nagelneues silbernes SonyEricsson. Hier scheint vieles nicht, wie es scheint.
Wir sind in Tirana, der Hauptstadt von Albanien.
Sie machen Eindruck, die Kinder der Revolution. Sie laden uns ein, sie helfen, wo sie nur können. Sie übersetzen, sie unterstützen uns und zeigen, dass sie sich freuen, dass wir endlich da sind. Wir, das sind die Studenten aus Deutschland, Karlsruhe: 10 Architekten der Technischen Hochschule und 3 Medienkünstler der Hochschule für Gestaltung. Auch dabei: Professoren, Assistenten, Begleitungen. Wir sind die Delegation, geschickt vom Kunstverein Karlsruhe.
„CROSS KICK“ ist eine Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Kunstvereine. 13 Delegationen fahren in 13 Länder Europas, und Karlsruhe macht den Anfang. „CROSS KICK“ heißt „Querpass“. Wir haben Mai 2006, und es geht nicht um Fußball.
Unsere Aufgabe ist es, eine Annäherung der Kunstszene Albaniens und Deutschlands zu erreichen. Jedem Studenten steht es dabei frei, sein Projekt zu wählen. Ich entscheide mich für „die Situation Homosexueller in Albanien“. Toughes Thema. YAY.
Aber jetzt kommen erst mal die Studenten.
Sie haben auf uns gewartet.
Wir werden begrüßt und fahren mit der Seilbahn auf den nahen Dajti-Hausberg. Wir lernen die Tipps und Tricks, und dass man für weniger als 20 Cent durch die Stadt kommen kann – oft sogar kostenlos.
„Faleminderit!“ bedankt sich Lisa vorsichtig, ahnend, dass Adela sie korrigieren wird. Wir lernen Albanisch, oder zumindest das, was man als Tourist wissen muss. Wir sind Pioniere in einem fremden, nahen Land.
Was hat die Fahrt lange gedauert, und was habe ich mir vorgestellt?
Albanien? Afghanistan!? Pass auf Dich auf! Komm heil wieder! Das Armenhaus Europas. Kosovo. Krieg!
Wir machen uns keine Vorstellung. Niemand weiß, was in Albanien eigentlich ist.
Wir sind touristische Novicen, mitten in Europa.
Und hier sieht es wirklich nicht aus wie in Afghanistan.
In der Bar, in der wir jetzt sind klemmt der Lautstärkeregler am Anschlag. Meine vorsichtigen deutschen Ohren gehen auf Alarm. Neben mir hat einer der Jugendlichen eine Flasche zum überschäumen gebracht und auf eine Hälfte der Gäste verspritzt. Kein böses Wort, nur lachende Gesichter. Einer beginnt einen Trommelwirbel mit den Fingern auf der Tischplatte, die Musik wechselt im 2-Minutentakt, die Gäste tanzen zwischen Bar und Stühlen – wo eben Platz ist. Und vor jedem Deutschen steht ein 2-Liter Bierkrug Paulaner oder Heineken. Wir müssen zeigen, was wir können.
Keiner weiß, ob das Bier echt ist oder gefälscht. Florian riecht die Heineken-Fälschung heraus. Es schmeckt ihm.
Ich verlasse die Bar, laufe durch die lauwarme Sommernacht – Staub liegt in der Luft und bildet eine schmierige Schicht auf meiner Haut. Es ist kurz vor 12. Die Straßen werden von Putzfrauen gereinigt – und es staubt mehr denn je. Neben mir auf dem Gehsteig teilen 4 Zigeunerkinder das den Tag über erwirtschaftete Geld. Es sind ein paar Hundert Lek. Die Eltern werden es ihnen abnehmen und sie wieder auf die Straße schicken. Dort werden sie wie tot auf dem Boden liegen. Passanten werden Geldstücke zu ihnen legen und weitergehen.
Die Bettler sind sehr unaufdringlich in dieser Stadt. Sie lassen sich ignorieren. Man kann sie auch leicht verscheuchen. Bis vor wenigen Jahren waren noch viel mehr Albaner arm und lebten auf der Straße. Vieles hat sich getan, wenn auch nicht alles: Das Land, das wir sehen, führt wie kaum ein anderes vor Augen, wie nahe Reichtum und Ruin nebeneinander existieren können.
Es beginnt mit der Einlauf luxuriöser italienischer Fähren in den Container-Hafen von Durres oder mit der PKW-Überquerung der Serbisch/Albanischen Grenze, die kaum mehr ist als ein Feldweg. Oder es beginnt mit der Ankunft am internationalen „Mother Theresa Airport“, der mehr einem Hotel gleicht als einem ernstzunehmenden Verkehrsknotenpunkt. Grenzerfahrungen an den Grenzen eines kleinen Landes im Mittelmeerraum, eingepfercht zwischen Griechenland, Mazedonien, Serbien, Montenegro und auf der anderen Seite des Meeres: Italien.
Grenzen, welche die meisten Albaner nur von innen sehen können. Die Ausreisebestimmungen sind hart. Doch es ist keineswegs Albanien selbst, was sich sperrt, sondern die Mitgliedstaaten der EU, die fürchten von einer Millionenschar „krimineller“ Skipetaren heimgesucht zu werden. Eine Einladung eines ausländischen Staatsbürgers ist daher zwingend erforderlich, oder aber ein dringender Grund für den Besuch. Außerdem werden Privatleben und finanzielle Situation der Antragsteller penibel untersucht. Auch die der einladenden Familie. Viele Anträge werden von den ausländischen Behörden abgewiesen. Fluchtgefahr. Ich erinnere mich an die linken Sprüche aus Deutschland: „Kein Mensch ist illegal“. Hier bekommt das Wort „Mensch“ ein Gesicht, und es sieht traurig aus.
Auf der Straße nach Tirana gedeiht ein Wildwuchs an Häusern verschiedener Bauweisen, Formen und Farben. Metaphorisch gesprochen sieht es aus, als habe jemand in einem frisch gedüngten Feld den kompletten Saatvorrat eines Blumenladens verstreut und dann vergessen das Unkraut zu jäten. Die Einfahrt in die Stadt dagegen gleicht einer Fahrt durch ein frisch entbombtes Mienenfeld. Tatsächlich bietet sich ein Bild des Grauens, als mein Bus am „Black Bird“ hält, einer traurigen und politisch motivierten Straßenbauruine an einem zentralen Einfahrtpunkt in die Stadt. Staub hält sich hartnäckig in der Luft. Vor uns und hinter uns walzt sich mehrspurig eine Auto- und Lastwagenlawine über die kaputten Straßen. Zwischendrin: Fussgänger, Staub, Müll. Am Rand im Baugraben liegt ein verwesender Hund.
Einen Teerbelag hat dieser improvisierte Kreisverkehr nicht, nur einen einsamen Brückensockel aus Beton, der einst dazu gedacht war der miserablen Verkehrslage durch eine Umgehungsbrücke Abhilfe zu schaffen und dessen Bau seit der Machtübernahme der Demokraten im Juni 2005 auf unbestimmte Zeit unterbrochen wurde. Angeblich aus Gründen der Korruption, aber hier ist jede Politik irgendwie Korruption. Möglicherweise wird die Brücke nie zuende gebaut werden. Möglicherweise bleibt alles wie es jetzt ist. Noch ein Jahr, noch zwei Jahre? Bis dahin bläst der Staub durch die umliegenden Hochhausschluchten.
Bürokratie ersetzt Korruption in der jungen Demokratie Albaniens. Doch davon haben die Jungen langsam genug. Man spürt an jeder Ecke die rasend schnellen Veränderungen der letzten Jahre, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch der letzte Rest postsozialistischer Melancholie einer fernen Vergangenheit angehört. Die meisten Partys sind schon mitten im Gange.
Bald mehr.